INGO ist klein, rechteckig und sehr rot. Und er ist nützlich. Denn erneuerbare Energien können ja so anstrengend sein. Sie stellen ganz neue Anforderungen an das fein austarierte System der Stromnetze. In Kadenbach im Westerwald sorgt jetzt ein Gemeinschaftsprojekt für Klarheit im Einspeisedschungel.
Großkraftwerke brummen und summen seit Jahrzehnten behäbig vor sich hin, egal ob mit Kohle, Gas, Öl oder Kernkraft angetrieben. Schön gleichmäßig geben sie jahrein, jahraus ihre Leistung in die Stromnetze ab. Von Hoch- zu Mittelspannung und letztlich ab in den Hausanschluss – so lieben es Kraft- und Netzwerker.
Denn zahllose elektrische Geräte brauchen eine stabile Spannung, die sie in Musik, saubere Wäsche oder Handy-Ladungen umsetzen. Ohne Strom läuft in unserer Welt fast nichts mehr. Schön, wenn dafür keine fossilen Energieträger verfeuert werden, sondern der Strom aus Wind, Wasser oder Sonne gewonnen wird.
Doch jetzt beginnen die Herausforderungen. Dezentrale Erzeugungsanlagen wie Windkrafträder oder Solarparks laufen unregelmäßig, belasten also die Hoch- und Mittelspannungsnetze mit schwankenden Ertragslasten.
Gegenverkehr auf der Stromautobahn
Steigendes Klimabewusstsein und öffentliche Förderung haben zu einer stetig steigenden Zahl von Solaranlagen auf den Häusern geführt. Die speisen ihre Sonnenenergie ins öffentliche Netz ein. So wird der Verbraucher zum Erzeuger. Dafür sind die Energienetze aber nicht ausgelegt. Aus einer jahrzehntelangen Einbahnstraße wird auf einmal eine Verkehrsader mit Gegenverkehr. Im schlimmsten Fall wird durch diese Einspeisung so viel Strom auf der „falschen Seite“ produziert, dass das Netz sein Spannungsband verlässt. Das mögen die meisten der elektrischen Verbraucher gar nicht und steigen entweder aus oder werden beschädigt.
Kadenbach ist ein Ort vor den Toren von Koblenz. Sonnige Südlage, viele Neubauten, Solarpanels auf dem Dach, der eine oder andere Stromer in der Garage. Bis heute speisen 27 Häuslebauer mit ihren Aufdachanlagen an sonnenreichen Tagen rund 190 Kilowatt mehr Strom in das Niederspannungsnetz ein, als die etwa 188 Wohneinheiten verbrauchen. Kadenbach wird also quasi zum Kraftwerk. Der Energieversorger vor Ort, die Energienetze Mittelrhein, weiß natürlich genau, was in seinem Netz vom Großkraftwerk über die Leitungen bis in den Ort hinein zu den Verteilerstationen geschieht. Doch jetzt kommt auf einmal Bewegung im Bereich der Niederspannung.
Die Energieflüsse, die zurück in die Trafostationen der Mittelspannungsversorgung fließen, können nicht überwacht werden. Dringende Aufgabe: Es müssen Messwerte gewonnen werden, die für Transparenz sorgen. Diese Messwerte müssen dazu dienen, dass die Spannungsstufen automatisiert verstellt werden, um Netzschwankungen auszuschließen.
Das Netz wird schlauer
Also taten sich Phoenix Contact sowie die Jean Müller GmbH und der Software-Hersteller PSI Gridconnect mit den Energienetzen Mittelrhein zusammen und entwickelten eine smarte Lösung: das „Energy Control Interface“. Dieses Interface sammelt die Werte der installierten Messsensoren ein, bereitet sie auf und leitet sie über ein spezielles Fernwirkprotokoll an die Ortsnetzstation weiter.
Stromversorgung und Absicherungen sind im Interface untergebracht. Die Hardware-Lösung zur Digitalisierung von Niederspannungsabgängen lässt sich folglich per Plug-and-Play installieren. Kann die Einstellung der Fernwirkeinheit nicht vor Ort stattfinden, ist dies auch per Offline-Tool oder aus der Ferne via FTP-Datentransfer möglich.
„Im Asset Management möchten wir in puncto Netzausbau gern in die Zukunft schauen und kritische Netzpunkte frühzeitig erkennen, bevor diese entstehen.“, erklärt Peter Wiacker, Leiter Asset Management bei Energienetze Mittelrhein, der in seiner Funktion auch für die Stromnetze zuständig ist. „Zu diesem Zweck benötigen wir unbedingt Messwerte aus den bislang nicht digitalisierten Netzbereichen. Nur so können wir feststellen, welche Auswirkungen beispielsweise der erhebliche Zubau von Photovoltaik hat und wie das Stromnetz durch die steigende Zahl von öffentlichen und privaten Ladepunkten sowie intelligenten Verbrauchern beeinflusst wird.“
INGO ist rot
Die Messsensoren sind in zwei Kabelverteilerschränken in den knallgelben Sicherungsschaltleisten PLPlano von Jean Müller verbaut. Sie sind an das Energy Control Interface angebunden. Alle Messwerte werden an die cloudbasierte Smart-Grid-Plattform weitergereicht. Die hört auf den schönen Namen „PSIngo“, kurz INGO. Die dazu nötige rote Box ist ebenfalls auf der Sammelschiene im Ortsnetzverteiler installiert. Entwickelt wurde diese Plattform von PSI Gridconnect.
Lassen sich Netzknotenpunkte nicht direkt messen, berechnet sie PSInGO mit einem von PSI Gridconnect entwickelten Algorithmus. Auf diese Weise sind die Netzzustände in Kadenbach für die Netzführung transparent sichtbar. Die Berechnung der Stufenstellung des regelbaren Ortsnetztransformators erfolgt vor Ort von PSInGO und wird durch eine PLCnext-Steuerung von Phoenix Contact umgesetzt.
Kommt es zur Überschreitung eines Grenzwerts, sendet das System Benachrichtigungen an die zuständigen Energienetze Mittelrhein-Mitarbeiter, die bei Bedarf manuell eingreifen können. Im Normalfall funktioniert die Verstellung der Spannungsstufen aber völlig automatisch. „Mit smarten Lösungen wie der in Kadenbach installierten regelbaren Ortsnetztransformatorstation mit Weitbereichsregelung lassen sich die Herausforderungen der fortschreitenden Energiewende meistern“, erklärt Dr. Andreas Hoffknecht, Geschäftsführer der Energienetze Mittelrhein. „Durch den vollautomatischen Ausgleich von Spannungsschwankungen ist die zuverlässige Versorgung der Bevölkerung mit Energie auch in Zukunft sichergestellt.“