Nezzy – Das ­Ungeheuer von Loch Geestland

Bisher galten Windkraftanlagen als eine grundsolide Angelegenheit. Bombenfest im Boden verankert, trotzen Turm, bewegliche Gondel und drei Rotorblätter den Gewalten von Wind und Wetter. Bisher. Denn Sönke Siegfriedsen will sich von dieser Erdgebundenheit lösen.

Der Mann ist ein echter Pionier der Windkraftbranche. Ein erfolgreicher Unternehmer. Ein Techniker. Und ein Visionär und Weltenbummler. Zweite Heimat China – nicht nur für jemanden mit Firmensitz Rendsburg ein großer Sprung. Mit seiner Nezzy2 verlässt Sönke Siegfriedsen sogar den festen Boden. Denn er und sein Team bringen dem Windrad das Schwimmen bei.

Floater heißen diese schwimmenden Energiebesorger in der Branche. Und sie genießen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Denn Floater könnten ein wichtiges Element der weltweiten Energiegewinnung werden. Das liegt an den ­Limits, die den Stationäranlagen in ihre Betonfüße gegossen werden. Nämlich die Notwendigkeit, mittels eines festen Fundaments die Kräfte auszugleichen, die in 200 Metern Höhe darüber an der gesamten Anlage zerren.
Tiefer als etwa 60 Meter darf der Meeresboden nicht liegen, denn darüber hinaus lassen sich die massiven Betonfundamente nicht im Meeresboden einbringen.

Die Lösung liegt an der Kette

Sönke Siegfriedsen ist ein norddeutscher Jung wie aus dem Bilderbuch. Schon mit drei Jahren auf dem Segelboot, mit sieben selber segeln gelernt, mit 14 Teilnehmer an der Weltmeisterschaft auf der Optimisten-Jolle. Seit dem Physikstudium in Lübeck ist er der Energie und ihrer Gewinnung verfallen. Und seit dem Besuch einer Pionier-Windanlage in Dänemark 1978 ist ihm klar, dass Wind nicht nur im Segel seine Welt beeinflussen wird.

1979 baut er auf dem Dach der Fachhochschule Lübeck eine erste Windanlage. Mittlerweile sind aus diesen ersten Anfängen 50 Patentfamilien und 27 komplette Windenergieanlagen geworden. „In China laufen gut 50.000 Anlagen mit unserem Design, aus unserer Entwicklung“, erzählt der Chef der Firma aerodyn engineering nicht ohne Stolz.

Und deutet lässig mit dem Daumen über die Schulter. „Und das ist unser neuester Streich.“ Wir sitzen am Ufer eines Baggersees zwischen Cuxhaven und Bremerhaven. Die Sonne scheint, am Himmel spielen die Wolken Karussell. Auf dem spiegelglatten See schwimmt ein doppelköpfiges Ungetüm und reckt insgesamt sechs Rotorblätter bis 18 Meter in die Höhe. Wenn es nach dem Willen seines Erfinders geht, wartet hier die Lösung für die Offshore-Windindustrie.

Stabil dank Spannung

„Die Anlage ist rund sechs Tonnen schwer“, schildert Siegfriedsen die Dimensionen der schwimmenden Windkraftanlage. Auf dem Seeboden sind Betongewichte installiert, die das Zentrum der Windkraftanlage, eine tauchende Boje, mittels sechs Ankerketten an Ort und Stelle halten. Diese Boje ist das schwimmende Fundament der Windkraftanlage. Gefertigt wird sie durch vorgespannte Betonfertigteile, die zusammen ein liegendes Ypsilon bilden. Dieses schwimmende Fundament richtet sich von allein durch die Windströmung aus. Anders als bei den Anlagen an Land drehen hier nicht die einzelnen ­Gondeln, sondern die gesamte oberseeische Anlage.

Auf diesem Fundament gründen die beiden Türme, die schräg aufgestellt und durch Abspannseile miteinander und mit dem Fundament verbunden sind. Momentan drehen dreiflüglige Rotoren, doch alternative Zweiflügler warten schon auf ihre Erprobung. Komplettiert wird die Anlage durch große gelbe Schwimmer, die für die stabile Schwimmlage des Windrads an der Wasseroberfläche sorgen sollen.

Noch schwimmt Nezzy nur auf einem Baggersee …

Erprobung – das ist das Motto. Nezzy2 ist eine Forschungsanlage. Ein Datensammler. Mehr als vier Millionen Daten werden in 10 Minuten gesammelt. Alle 10 Minuten. Timo Konieczny, Key Account Manager des Windteams bei Phoenix Contact, erklärt: „Wir waren schon beim Vorgänger Nezzy 1, der im Japanischen Meer getestet wurde, dabei.“

Sicher durch den Zyklon

Stabil ist die doppelköpfige Anlage dank ihrer innovativen Spanntechnologie. Ganz wichtig ist aber auch die Überwachung im Betrieb. Was passiert, wenn ein Rotor ausfällt? Oder hoher Wellengang die Ankerketten in Bewegung bringt oder ein Wirbelsturm über die Anlage zieht? Daten in Echtzeit, hoher Automationsgrad, extreme Zuverlässigkeit – ohne Spitzentechnologie wird Nezzy zum Ungetüm. Bei Nezzy2 wurde schon in der Entwicklung mit dem Programm PLCnext Engineer gearbeitet. Von den Pitch Systemen bis hin zum Hauptschaltschrank sind in der Anlage insgesamt sechs PLCnext-Steuerungen eingesetzt. Diese erfassen die Sensordaten, führen Berechnungen durch und übernehmen die korrekte Ansteuerung der Komponenten. Die Regelung und Synchronität der beiden Turbinen ist natürlich extrem wichtig.

Kein Wunder, dass auch die Kollegen des Windteams von Phoenix Contact fasziniert sind. „Für uns war es das erste Mal, dass wir an und mit einer Zwei-Turbinen-Anlage gearbeitet haben. Das ist schon sehr spannend. Um neue Funktionen hinzuzufügen und die Aufgaben unserer Automatisierungstechnik zu optimieren, haben wir fast täglich neue Softwarepakete mit den Kollegen von Recase ausgetauscht“, schildert Application Engineer Lukas Christ die Pionierarbeit. Recase ist die Firma, die die Elektrotechnik von Nezzy2 projektiert und in Betrieb genommen hat. Timo Konieczny ist sichtlich angetan von dem doppelköpfigen Ungetüm: „Das hier ist wirklich Pionierarbeit. Und wir sind Partner in echter Grundlagenforschung. Wir entwickeln aktiv die Programmierung der Steuerung in Kooperation mit Recase.“

Und das alles hält wirklich zusammen, auch außerhalb des ruhigen norddeutschen Baggersees und in zehnfach größeren Dimensionen? „Na klar“, ist sich Sönke Siegfriedsen sicher. „Das System schwimmender Arbeitsplattformen ist nicht neu, das praktiziert ja die Erdölförderung schon lange. Und auch Windenergieanlagen wurde schon das Schwimmen beigebracht. Das Besondere an unserer Anlage hier ist aber das Konzept der zwei Türme. Denn erst so wird sich der konstruktive Mehraufwand rechnen. Die Anlage kann einfach doppelt so viel Windenergie einfangen.“

Richtig in Wind und Welle wird es ab Oktober gehen, denn dann ist ein Umzug von Nezzy2 geplant. Hinaus aus dem See, hinein in den Greifswalder Bodden, in die dann schon reichlich windige Ostsee. Wie wird sich das schwimmende Doppelhaupt in Strömung, Starkwind und Wellengang schlagen? Klappen alle Tests, dann wartet die weite Welt auf Nezzy – der Bau einer echten Großanlage soll an Chinas Küste stattfinden. Dann reckt die aufsehenerregende Windkraftanlage ihre zwei Naben nicht mehr in 18, sondern in 180 Meter Höhe in den Wind. Aber in China hat man ja Erfahrung mit Drachen. Nezzy2 kann also ruhig kommen.

Aerodyn Engeneering
Recase Regenerative Energien
Phoenix Contact Windenergie

Nachtrag

Manchmal überholt einen die Realität. Gerade noch­ ­saßen wir am Ufer eines Baggersees im niedersächsischen Bremerhaven und interviewten Windenergiepionier Sönke Siegfriedsen, schon schwimmt sein hier vorgestelltes Kraftswerksunikum in der Ostsee.
Die 18 Meter hohe Windkraftanlage im Maßstab 1:10 ist mittlerweile vom Baggersee in den Greifswalder Bodden umgezogen, vor die deutsche Ostseeküste. Hier wird sie der rauen Wirklichkeit von Wind und Welle ausgesetzt. Strom wird in dieser Testphase allerdings noch nicht erzeugt, verraten die Erbauer und ihre Partner rund um den Energieversorger EnBW.

EnBW and Nezzy2

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