Kalt ist es hier oben. Eisig kalt. Eine fast unwirkliche Stimmung liegt über dem Valle di Lei. Im Hintergrund ragt der Pizzo Stella in den Oberhalbsteiner Alpen empor. Auf der gewaltigen Staumauer liegt der Druck von 200 Millionen Kubikmetern Wasser. Eine Mauer, die verbindet. Auf der einen Seite des Tals die Schweiz, auf der anderen Italien. Und mittendrin ein Energiespeicher, der Strom für 350.000 Haushalte bereit hält.
Die Schweizer kennen ihre Alpen in- und auswendig. Im Fall der Kraftwerke Hinterrhein vor allem inwendig. Denn in einer der größten Anlagen ihrer Art gelingt es den Eidgenossen, in drei Kraftwerksgruppen dank ausgeklügelter Pumpen- und Generatorentechnologie und durch imposante Tunnelanlagen den Energievorrat des Lago di Lei ganzjährig nutzbar zu machen. Rund 45 Prozent der hier gewonnenen Strommenge von 1.400 GWh werden im Winterhalbjahr abgerufen.
Der hydrologische Sonderling
Der bis zu acht Kilometer lange Stausee, der das Tal des Reno di Lei heute bedeckt, entstand zwischen 1956 und 1963 und liegt komplett auf italienischem Gebiet, während sich die Staumauer auf Schweizer Gebiet befindet. Mit einem Staatsvertrag zwischen Italien und der Schweiz wurde der Bau der gewaltigen Staumauer mit einer Kronenlänge von 635 Metern möglich. 840.000 Kubikmeter Beton wurden zwischen 1957 und 1963 zu einer 138 Meter hohen Bogenmauer geformt, die sich seitdem den maximal 197 Millionen Kubikmeter Wasser entgegenstemmt.
Der Reno di Lei hieß früher Lei-Rhein und fließt tatsächlich in den Rhein. Damit ist er das einzige Gewässer Italiens, das letztlich in die Nordsee strömt.Gespeist wird der See durch das Schmelzwasser der winterlichen Schneefälle und die Regenfälle in der übrigen Zeit. Vor allem aber dient der Lago di Lei als Speicher, in den Wasser aus kleineren und tiefer gelegenen Speicherbecken hochgepumpt wird und die ihr Wasser teils aus anderen Tälern „einsammeln“. Das allerdings nur, wenn die angeschlossenen drei Turbinenstandorte keinen Strom erzeugen sollen. Ist genug Strom vorhanden, wird die überschüssige Energie dazu verwendet, Wasser in den knapp 2.000 Meter hochgelegenen Stausee zu pumpen.
In den Berg
Szenenwechsel: Mit dem Auto geht es durch den 950 Meter langen Tunnel zurück ins Kanton Graubünden. Durch das Aversertal geht es bergab zur Zentrale nach Avers, fast 500 Meter tiefer als der Stausee gelegen. Vor dem Zugang zur Anlage wartet Corsin Spiller bereits auf uns. Der 58-Jährige ist verantwortlich für die elektrischen Anlagen und Nebenanlagen. In einer Stabsfunktion ist er auch für die Sicherheit und Umwelt bei den Kraftwerken Hinterrhein verantwortlich. Seit 29 Jahren ist er hier tätig, kennt „seine“ Anlagen also aus- und vor allem inwendig. Denn die große Mauer des Lago di Lei ist nicht das einzige Bauwerk, das aus Wasser Strom machen soll.
„Insgesamt gibt es hier fünf Stauanlagen in verschiedenen Staubereichen, die über 59 Kilometer Stollen und Schächte miteinander verbunden sind. Mit unseren insgesamt drei Kraftwerken erreichen wir eine mittlere Jahresproduktion von 1.368 Gigawattstunden.“ Die Stimme von Corsin Spiller beginnt zu hallen, denn wir wandern in einem 180 Meter langen Tunnel ins Kraftwerk.
Richtig: Die Zentrale Ferrera liegt mitten im Berg. Vor uns öffnet sich die gigantische Maschinenhalle. Drei Francis-Turbinen finden in der 143 Meter langen, 29 Meter breiten und 24 Meter hohen Kaverne Platz. Diese Anlagen können als Turbine Strom erzeugen und im Umkehrbetrieb als Motor Wasser pumpen. „Das Licht hier drin wird so gesteuert, dass wir tagesähnliche Verhältnisse haben“, erklärt der diplomierte Elektrotechniker. „So wird es für die Bedienmannschaft im Schichtsystem hier im Berg einfacher. Das ist eine ausgeklügelte Steuerung, die wir hier selber entwickelt haben.“
Sogar ein echtes Schloss gibt es hier. Allerdings eines, in dem sich wohl nur Wassermänner so richtig wohl fühlen würden. Dieses sogenannte Wasserschloss ist eine riesige, kreisrunde Halle. Die ist nötig, um Druckschwankungen in den Rohrleitungen des Wasserkraftwerks auszugleichen und abzudämpfen. In der riesigen Kaverne hätten locker mehrere Mehrfamilienhäuser Platz.
Schneiden statt Schrauben
Der nächste Gang durch den Berg führt in die Bereiche, in denen Phoenix Contact-Produkte zum Einsatz kommen – in die Schaltanlagen. Schaltschrank nach Schaltschrank – und überall das prägnante Logo aus Blomberg. „Seit einigen Jahren setzen wir voll auf die Quickon Reihenklemmen“, Corsin Spiller weist auf den geöffneten Schrank, „anfangs waren gerade die alten Kraftwerker natürlich skeptisch. Kabel gehören in die Klemmen geschraubt, hieß es. Aber ich war überzeugt davon, dass der Mechanismus dieser Schneidklemmen naturgemäß weniger stör- und fehleranfällig ist, gerade beim Austausch. Ich konnte mich mit meiner Einschätzung durchsetzen. Seit 2007 setzen wir die Quickon Schneidklemmen von Phoenix Contact in großem Stil ein. Unser erstes Projekt war eine Freiluftschaltanlage in Sils im Domleschg, die heute der Netzgesellschaft Swissgrid gehört. Und wir sind da nie enttäuscht worden, bisher hatten wir keine einzige Störung.“
Das Thema Sanierung und Modernisierung begleitet den Projektleiter seit vielen Jahren: „Ein Trafo hat eine Lebenserwartung von rund 40 Jahren, ein Turbinenlaufrad kann auch 20 bis 35 Jahre durchhalten – aber die gesamte Steuerung inklusive der Computersteuerung überdauert natürlich keine 40 Jahre. Da gab es immer wieder kleinere Reparaturen und Systemanpassungen. Und jetzt war es an der Zeit, die gesamten Anlagen auf den aktuellen Stand der Technik zu bringen. In den letzten zehn Jahren haben wir dafür rund 300 Mio. Schweizer Franken investiert.“
Aus den Druckstollen wurde zunächst die PCB-haltige Beschichtung komplett entfernt. Auch die elektrischen Anlagen der Kraftwerkskonstruktion selber wurden auf den Prüfstand gestellt, um die Leistungsausbeute zu optimieren. So kann etwa mit einer besseren Turbine ein Wirkungsgradgewinn von zwei bis drei Prozent erreicht werden. „Bei einer jährlichen Leistung von rund 1,4 Gigawatt macht das schon ordentlich etwas aus.“
Herausforderungen der Zukunft
Die zuverlässige Verfügbarkeit ist für die Kraftwerke Hinterrhein entscheidend. Das Unternehmen steht vor großen Herausforderungen durch die steigenden Energiebedarfe etwa durch Ladeparks für die Elektromobilität oder die Serverfarmen der Bitcoinwaschanlagen. Spiller erklärt: „Das ist für unser Netz schwierig. Mit Waschmaschine und Warmwasseraufbereitung hatten wir in der Vergangenheit keine Probleme, aber etwa eine Schnellladestation für einen Tesla stellt uns schon vor Herausforderungen. Wenn Sie sich beispielsweise in einem kleinen Dorf in den Bergen niederlassen, dort ein Mehrfamilienhaus errichten und dafür Lademöglichkeiten errichten wollen, dann sind wir verpflichtet, diese Anschlussleistung bis vor das Haus zu bringen.“
Personell bereitet der allgegenwärtige Fachkräftemangel auch den Graubündenern Kopfzerbrechen, trotz der spannenden Arbeitsplätze in einer der schönsten Gegenden Europas. „Kraftwerker haben eine anstrengende und verantwortungsvolle Aufgabe, auch wenn dank der Automatisierung etwa hier in Ferrera die Zeiten von Schichtarbeit rund um die Uhr der Vergangenheit angehören.“ Lediglich während der Wartungsphasen erfüllt geschäftiges Treiben die unterirdischen Anlagen, ansonsten werden die Maschinen im Berg von der Kommandozentrale in Sils aus überwacht und gesteuert.
Wasser, Werker und Verträge
Aktuell ist es allerdings der sogenannte „Heimfall“, der die Kraftwerker umtreibt. Corsin Spiller erläutert: „Wer in der Schweiz Wasserkraft nutzen will, braucht dafür eine Konzession. In den nächsten Jahrzehnten laufen Konzessionen von Dutzenden Schweizer Wasserkraftwerken aus. Auf uns kommt diese Thematik 2042 zu. Es sind zahlreiche technische und auch rechtliche Abklärungen weit im Voraus durchzuführen.“
Die Rechte an der Nutzung der Wasserkraft liegen in der Hand der Kantone und Gemeinden. Diese Rechte wurden den Kraftwerksbetreibern der Hinterrhein Kraftwerke AG für 80 Jahre abgetreten. Gemäß dem Wasserrechtsgesetz gehen die Kraftwerke nach Ablauf der Konzession an die Standortgemeinden oder Kantone zurück. Die nassen Teile (Staumauer, Druckrohre, Turbinen) sind gratis, die trockenen Teile (Generatoren, Transformatoren, Leitsysteme), können zu einem „günstigen“ Preis übernommen werden. Aber „können“ Kantone und Gemeinden Wasserkraft und Energiegewinnung und -vermarktung? Der vielsagende Blick von Corsin Spiller lässt ahnen, dass es in dieser Frage durchaus unterschiedliche Meinungen gibt.
Schlechtwetterwünsche
Welche Auswirkungen hat der Klimawandel auf das alpine Speicherreservoir? Die Miene des Kraftwerkers wird ernst: „Wir haben die paradoxe Situation, dass wir im europäischen Verbundsystem nicht mehr nur im Winter unsere gespeicherte Energie bereitstellen, wenn die erneuerbaren Stromerzeuger weniger Ertrag liefern. Wenn im Sommer die französischen Flüsse nicht mehr genug Wasser führen, um die dortigen Kernkraftwerke zu kühlen und die dann gedrosselt werden müssen, werden unsere Reserven auch abgerufen. Das sind zwar bisher nur drei bis vier Wochen im Jahr, allerdings mit zunehmender Zeitdauer.
Wenn man heute in die Berge schaut, etwa auf den Gletscher im Valle di Lei, reichte der bis vor 40 Jahren noch fast bis an den Rand des Tals. Heute ist er faktisch verschwunden. Wir haben auch dieses Jahr wieder rund zwei bis drei Meter weniger Schnee in den Bergen. Das kann man mal ein oder zwei Jahre überbrücken. Aber wenn das länger anhält, wird es problematisch. Wir Werker hoffen also auf niederschlagsreiche Sommermonate und lange, schneereiche Winter.“
Wasser ist ein kostbares Gut, welches auch einen wichtigen Beitrag im Energiemix leistet – wenn es denn in ausreichender Menge am richtigen Ort vorhanden ist. Und clever eingesetzt wird. So wie im Valle di Lei, an der großen Mauer.