Entdeckt Mutter Erde ihre archaische Natur, wird der Mensch ganz klein. Erdbeben sind eine elementare Naturgewalt, gegen die kaum ein Schutz möglich ist. Umso wichtiger, dass Betroffene möglichst rechtzeitig gewarnt werden und sich in Sicherheit bringen können. Im nordrhein-westfälischen Castrop-Rauxel wurde ein Frühwarngerät entwickelt, dass die dafür entscheidende Zeit sicherstellen kann.
Wenn es um Erdbeben geht, dann denkt man an gewaltige Katastrophen, Flutwellen und kollidierende Erdplatten. Unser Planet ist im Inneren wesentlich weniger erforscht als etwa die Oberfläche von Mond, Mars oder anderen weit entfernten Himmelskörpern. Wenn die als so sicher empfundene Erdkruste sich auf einmal bewegt, dann verursacht das im mildesten Fall eine Panik, im schlimmsten Fall sterben Hunderttausende. Und eine Vorhersage solch eines Ereignisses gilt als unmöglich.
Auf der Suche nach der Firma Secty electronics bin ich dreimal am Gebäude vorbeigefahren und -gelaufen. In Erwartung eines großen Forschungszentrums oder mindestens eines imposanten Start-ups mit Glas und Marmor habe ich den Klingelknopf in einer Seitenstraße des Ruhrpott-Städtchens Castrop-Rauxel glatt übersehen. Mit einem freundlichen Hallo wird die Tür geöffnet und ich am Weitersuchen gehindert. Und schwupps befinde ich mich im Herzen eines global agierenden Unternehmens, welches Millionen Menschenleben retten kann und trotzdem die Grundfläche einer durchschnittlichen Zweizimmerwohnung nicht überschreitet.
Auf dem Tisch des Besprechungszimmers warten zwei unscheinbar wirkende Grundmodule des „secty lifePatron“. Wie mir sein Entwickler und Firmenchef Jürgen Przybylak erklärt, ist dies die Hauptsteuereinheit, in der die gesamte Intelligenz mit dem mathematischen Algorithmus der Erdbebenerkennung untergebracht ist, verteilt auf Master und Submaster. Bevor wir aber zu den Geräten kommen, erklärt Przybylak zunächst die Grundlagen der Erdbebenkunde:
Erdbeben warnen vor sich selbst
„Jedes Erdbeben besteht aus einer Primär- und einer Sekundärwelle. Diese Wellenbewegungen der Erdoberfläche entstehen, wenn sich Spannungen in der Erdkruste lösen, sei es durch kontinentale Plattenbewegungen, Vulkanausbrüche, Explosionen oder auch bei Einstürzen großer Hohlräume. Dabei läuft die Primärwelle, die sogenannte p-Welle, stets voraus. Sie ist für den Menschen nicht wahrnehmbar. Erst die dann folgende Sekundär- oder s-Welle besitzt das zerstörerische Potenzial. Die p-Welle läuft dabei doppelt so schnell wie die s-Welle, erreicht den jeweiligen Standort also immer zuerst. Die Zeitdifferenz zwischen dem Erscheinen der harmlosen p-Welle und der zerstörerischen s-Welle hängt von der Entfernung zum Ort der Entstehung, dem Epizentrum und der Tiefe des Bebens ab.“
Man merkt, dass der 62-Jährige Techniker ein weitgereister Experte ist, der es gewohnt ist, in zunächst ungläubige Gesichter zu schauen. „Alle erwarten immer mindestens einen Professor, wenn ich unsere Lösung vorstellen möchte“, schmunzelt er verschmitzt. Angst vor Publikum hat der bodenständige Weltenbummler längst nicht mehr: „Ich weiß ja um die Qualität unseres Produkts.“ Przybylak ist ein überzeugender Botschafter des Secty lifePatrons.
Dabei sind die reinen Vorwarnzeiten zunächst wenig beeindruckend. „In rund 40 Kilometer Entfernung vom Epizentrum beträgt die Differenz zwischen p- und s-Welle 8 bis 12 Sekunden. In 120 Kilometer Entfernung wächst die Zeit auf 24 bis 36 Sekunden an.“ Aber diese Sekunden entscheiden über Tod und Verwüstung oder sicheres Überleben. „In zahllosen Versuchen und Studien hat man festgestellt, dass Menschen zwischen 10 und 16 Sekunden benötigen, bis sie überhaupt begreifen, dass ein schweres Erdbeben eingesetzt hat. Erst dann versuchen sie, sich in Sicherheit zu bringen. Und das, während die s-Welle ihre zerstörerische Wirkung entfaltet, denn die p-Welle wurde ja nicht wahrgenommen.“
Jede Sekunde zählt
Genau hier setzt die Wirkweise vom „Secty lifePatron“ ein: „Wir können die p-Welle zuverlässig detektieren und analysieren. Zuverlässig bedeutet, dass wir Fehlerquellen wie vorbeirumpelnde Lkw herausfiltern können. Und wir können anhand der p-Welle vorhersagen, ob die folgende s-Welle tatsächlich gefährlich wird. Das kann weltweit kein anderes Gerät. Dadurch vertrauen die Menschen unserem System – wird Alarm ausgelöst, dann ist es wirklich ernst. So geben wir den Menschen das Wertvollste, was sie benötigen: Zeit.“
Aber doch nur wenige Sekunden. „Das hat der deutsche Botschafter in Kasachstan auch gesagt.“ Jürgen Przybylak erinnert sich gut: „Das war 2005 meine erste Messe, ich war damals eingeladen zu einem abendlichen Dinner. Ich habe ihn dann nur gefragt, wie lange er brauchen würde, bis er jetzt die nächste Tür nach draußen erreichen würde.“ Das Lächeln auf dem Gesicht des Diplomaten wich einer interessierten Miene.
Przybylak macht auf ein entscheidendes Feature aufmerksam: „Und in dieser Zeit können automatische Sicherungssysteme etwa die Gaszufuhr abriegeln, Fahrstühle sichern, Türsysteme freischalten. Viele Schäden entstehen erst nach dem Erdbeben, indem austretendes Gas Explosionen auslöst oder Stromleitungen zerstört und damit Versorgungseinrichtungen unbenutzbar werden.“
Entwicklung aus dem Taubensport
Aber wie wird die p-Welle gemessen? Und wie kommt ein Techniker aus dem Ruhrpott an eine Technologie, die für Millionen Menschen existenziell sein kann? Jürgen Przybylak schmunzelt: „Durch den Kollegen Zufall. Wir hatten Sensoren für den internationalen Taubensport entwickelt, bei dem die fliegenden Hochleistungssportler bei Kontakt mit einer Sitzstange eine Zeitmessung auslösten. 2003 kam dann das Helmholtz Zentrum Potsdam, Deutsches Geoforschungsinstitut auf uns zu mit der Frage, ob wir mit unserem Sensor auch eine ganz andere Form von Erschütterung messen könnten. Potsdam stellte uns dafür den Algorithmus zur Analyse der p-Welle zur Verfügung. Und daraus haben wir in Kooperation mit den Wissenschaftlern den Secty lifePatron entwickelt.“
Der gelernte Elektroniker war damals vom Wandel des Reviers betroffen. Als Mitarbeiter des zentralen Prüfwesens bekam er das Angebot, das Unternehmen Ruhrkohle mit einer Abfindung zu verlassen. Er ging das Risiko ein, nutzte Know-how und Kontakte und fand tatsächlich die passenden Komponenten für ein Frühwarnsystem.
Vom Pütt in die Welt
„Der Deal war, dass die Wissenschaftler ihr Know-how in Sachen p- und s-Wellen beisteuern und wir die Sensorik entwickeln. So war bekannt, dass starke Erdbeben eine Frequenz von 0 bis 15 Hertz aufweisen, alles darüber ist ungefährlich. Durch weitere Faktoren wie Beschleunigung und Intensität wird die p-Welle analysierbar. 2005 hatten wir den ersten Prototypen fertig, den wir uns haben patentieren lassen. Der Vertrieb lag und liegt bei uns. Herausgekommen ist ein Gerät, welches nicht nur Erdbeben detektieren kann. Sondern das vor allem auch in der Lage ist, NICHT auszulösen, wenn Schwingungen etwa von vorbeifahrenden Lkw ausgelöst werden. Denn Fehlalarme sind gefährlich. Sie sorgen dafür, dass Menschen abstumpfen.“
Die ersten Geräte wurden noch mit einer Mischung aus Staunen und Unglauben aufgenommen. Mittlerweile ist das Vorwarnsystem mit zahlreichen Preisen dekoriert und selbstredend weiterentwickelt. Die ersten Installationen führten Jürgen Przybylak nach Pakistan und Afghanistan, direkt in Taliban-Hochburgen. Aber: „Egal wo wir hinkommen, stets werden wir mit Respekt behandelt. Wer schon einmal ein Erdbeben erlebt hat, weiß, wie schrecklich das sein kann. Da ist jeder dankbar, wenn ein wenig geholfen wird.“
Heute gibt es kaum eine erdbebengefährdete Region dieser Erde, die von Przybylak nicht bereist wurde. „Unsere Systeme laufen überall, sind mittlerweile angepasst an widrigste Umweltbedingungen, extremes Klima und durch die kinderleichte Bedienung auch in Gegenden mit sehr niedrigem Bildungsniveau dauerhaft im Einsatz. Ziel ist es, ein System zu installieren, welches langfristig läuft. Dazu gehört nicht nur der technische Aufbau. Wir sind oft mehrfach vor Ort, um die Bevölkerung zu schulen – etwa Test- und Trainingsdrills vor, während und nach einem Erdbeben zu implementieren.“
Für die Wissenschaft sei das System heute allerdings kaum noch von Interesse. Zwar hätte das Gerät ohne die Unterstützung des Geoforschungszentrums Potsdam keine Grundlage gehabt, bilanziert Przybylak, doch „der lifePatron ist eben kein wissenschaftliches Gerät, sondern für den praktischen Nutzen vor Ort und auch einen kommerziellen Erfolg konzipiert.“
Einsatz im Gebäudemanagement
Das Secty lifePatron kann als Stand-alone-Lösung betrieben werden, also lediglich mit dem Master und einer Submaster genannten zweiten Einheit. „Diese beiden Geräte überwachen sich permanent gegenseitig, um Fehlalarme etwa durch grobe Berührung auszuschließen“, erklärt Jürgen Przybylak. „Das System arbeitet mit einer 12/24 V DC- oder einer 110/230 V AC-Spannungsversorgung sowie einer redundanten Batterie-Notstromversorgung. Wichtig ist nur, dass die Geräte an Betonfundamenten angebracht werden. Das System ist erweiterbar, um größere Gebäude oder Gegenden abzusichern.“
Neben dem direkten Einsatz zur Warnung von Menschen kann das System natürlich auch in der Gebäudetechnik und in Industrieanlagen eingesetzt werden. So sichert Secty lifePatron zum Beispiel die Gasversorgung der Stadtwerke Basel, indem dortige Magnetventile mit dem System automatisch schließen. Oder die Leitstelle eines Kraftwerks, bei dem bei Alarm die Zulüftung abgeschaltet wird.
Jürgen Przybylak ist von seinem System überzeugt: „Wir haben viele Klippen umschiffen müssen. Doch der Bedarf für unser Gerät ist riesengroß. Denn Mutter Erde schläft nie sehr tief. Und wenn sie erwacht, dann zählt jede Sekunde.“