1920er Jahre – Der erste Kunde

1923 nahm ein kleines Startup in Essen seinen offiziellen Betrieb auf. Und zwar mit Produkten, die die elektromobile Fortbewegung der Arbeiter sicherstellen sollten. Wie sich doch die Kreise schließen! Ein Besuch beim Kunden Nummer eins …

Zu Besuch im Straßenbahndepot Mülheim. Lutz Odewald im Gespräch mit Andreas Knebel und Martin Ruhnau (v.li.)

Martin Ruhnau legt den massiven Fahrschalter aus Messing um. Langsam setzt sich „Der ­Grüne Vestische“ in Bewegung. Der heute liebevoll ­restaurierte Triebwagen 144 wurde von 1921 bis 1940 auf der Gemeinschaftslinie 19 der Vestischen Kleinbahnen in Essen eingesetzt. Und kam so mit Sicherheit mit den ersten Produkten der Phönix Elektro- und Industrie-Bedarfsgesellschaft in seinen Gründungsjahren in Verbindung. Ein echter, wenn auch nur leise summender Zeitzeuge also.

Hugo Knümann startete 1923 mit dem Handel von Produkten, die die Elektromobilität massentauglich ­machten. Fahrdrahtklemmen sind die Elemente, an denen die stromführenden Oberleitungen aufgehängt sind, über die die Straßenbahnen ihre Energie bekommen. Sie bieten dem stromführenden Draht zum einen den nötigen Halt, stellen zum anderen aber auch die Isolation sicher, um die 750 Volt sicher handhaben zu können. Die treiben in unserem Fall die zweimal 37 kW starken BBC-Motoren an des „Grünen Vestischen“ an.

Fahren im Stehen

Wer den Triebwagen 144 in Betrieb nehmen will, versteht sofort, woher der Begriff Führerstand kommt. In dem ­Oldtimer muss der Fahrer nämlich stehen. Martin Ruhnau ist nicht nur stellvertretender Vorsitzender der Verkehrshistorischen Arbeitsgemeinschaft EVAG e.V. und damit quasi per du mit den historischen Schätzchen hier im Straßenbahndepot Mülheim. Der 51-jährige Elektrotechniker ist für die technischen Informationssysteme und Nachrichtentechnik der Straßenbahnen zuständig. Nebenbei ist er auch ein ausgebildeter Straßenbahn­führer, der an Wochenenden gern mal aushilft, wenn im regulären Betrieb ein Fahrer fehlt. Ihm zur Seite steht heute Andreas Knebel. Der Diplomingenieur ist der offizielle Vertreter der Ruhrbahn GmbH in der Verkehrshistorischen Arbeitsgemeinschaft. Und damit heute sozusagen der offizielle Gesandte des ersten Kunden.

Massenverkehrsmittel Straßenbahn

Andreas Knebel schildert, wie sich der Verkehr im boomenden Ruhrgebiet entwickelte: „Schon 1847 wurde ­Essen an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Dabei ging es vor allem um den Gütertransport, denn Fernreisen im Personenbereich waren zu der Zeit noch unüblich. Um Menschen zu befördern, dominierten in Essen zunächst noch Pferdeomnibusse. Aber das Ruhrgebiet wurde immer weiter industrialisiert. Und das bedeutete den massenhaften Zuzug von Arbeitern mit ihren Familien. Die mussten in die jeweiligen Zechen und Fabriken, in Essen war das vor allem Krupp. Im August 1893 startete die Essener Straßenbahn mit den Strecken vom heutigen Hauptbahnhof bis nach Altenessen und über Altendorf nach Borbeck.“

Andreas Knebel

Martin Ruhnau ergänzt: „Die Elektrifizierung der Straßenbahnen erfolgte in vielen Ruhrgebietsstädten nahezu zeitgleich. Wir feiern daher 2023 auch das 130-jährige Jubiläum dieser ersten Strecken.“ Während der 14 Tonnen schwere Triebwagen langsam durch die imposante historische Halle des Straßenbahndepots Mülheim rollt, erklärt Andreas Knebel: „Wir waren hier zwar nicht die Ersten, die mit elektrischen Straßenbahnen den Personenverkehr begonnen haben. Da war Berlin früher dran. Aber wir haben hier gleich von Beginn an städteübergreifenden Verkehr realisiert.“

Essener Hauptbahnhof 1905

1895 wurde die Süddeutsche Eisenbahn-Gesellschaft AG (SEG) gegründet. Zu Beginn der 30er-Jahre umfasste das Netz der Straßenbahnen weit mehr als 1.000 Kilometer vom Ruhrgebiet bis ins Bergische Land. „Der Individualverkehr mit dem Auto war zunächst nur ganz schwach vertreten, anders als etwa in Amerika,“ erklärt Martin Ruhnau die Bedeutung der Straßenbahnen. „Damals gab es kaum ein anderes Verkehrsmittel. Und auch Lastkraftwagen gab es kaum. Die Straßenbahn war damals der Hauptlastträger.“

Höhepunkt und Niedergang

Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem gut 90 Prozent sowohl der Fahrzeuge als auch der Oberleitungen zerstört worden waren, erlebte die Straßenbahn schnell einen neuen Höhepunkt. Bis Mitte der 50er-Jahre wurden die meisten Strecken wieder in Betrieb genommen. 1956 beförderten die Essener Straßenbahnen insgesamt 155 Millionen Passagiere. Wie das historische Kassenbuch von Ursula ­Lampmann allerdings verrät, spielte der Umsatz mit den Fahrdrahtarmaturen für Phönix in den 50er-Jahren keine Rolle mehr. Die patentierte RWE-Klemme ­hatte dem elektromobilen Leitungsbauteil längst den Rang ­abgelaufen.

Und auch die Straßenbahn selber geriet unter Druck. Der Omnibus machte dem Schienenfahrzeug mächtig Konkurrenz. Und die Städte wurden gerade in den 70er- und 80er-Jahren zu „autogerechten Städten“ umgebaut. Modern galt, wer die Schiene abschaffte oder in Tunnel verfrachtete und Platz für Deutschlands liebstes Kind schuf. Zahlreiche Nebenstrecken wurden eingestellt, das Netz der elektrifizierten Fortbewegungsmittel drastisch zusammengestrichen. „Aufgrund der Bergschäden war der Tunnelbau für U-Bahnen hier im Ruhrgebiet aber nur eingeschränkt möglich, daher blieb ein Restnetz bestehen“, beschreibt Martin Ruhnau die damalige Sicht auf das „Hindernis Straßenbahn“.

Neues Bewusstsein

Bei der VHAG-EVAG genießt diese Zeit allerdings noch höchsten Stellenwert, denn neben dem „Grünen Vestischen“ warten noch etliche weitere Straßenbahnen aus vergangenen Jahrzehnten auf die eine oder andere Ausfahrt. Mittlerweile ist die Straßenbahn längst wieder ein Identitätsstifter im Straßenbild, um das viele Städte die Essener beneiden. Gemeinsam mit den Werkstätten der Ruhrbahn GmbH wird der historische Wagenpark im passenden Ambiente der Alten Dreherei in Mülheim liebevoll in Schuss und fahrbereit gehalten.

Nach einer gemütlichen Runde mit dem Oldtimer lassen es sich die Straßenbahnfans Ruhnau und Knebel nicht nehmen, noch schnell einen Blick in die gelbe NF2 zu werfen. Die moderne Niederflur-Straßenbahn wird vom Fahrer nicht nur im rückenschonenden Sitzen gesteuert, sondern bietet auch modernste Kommunikations- und Sicherheitstechnologie. Schließlich zählen Straßenbahnen im Rahmen der Verkehrswende noch lange nicht zum alten Eisen, sondern erleben im Gegenteil eine ganz neue Wertschätzung als eine elektromobile, umweltfreundliche und komfortable Möglichkeit des modernen Personennah­verkehrs der Zukunft.

„Und genau daher, also aus der heutigen Zeit, kennen wir Phoenix Contact natürlich“, schmunzeln unsere Experten über die mitgebrachte antike Fahrdrahtarmatur aus der eigenen Historiensammlung. „Allerdings als Hightech-Unternehmen. Dass Sie mit so einem Low-Tech-Produkt begonnen haben, dass hier ja noch immer an jeder Straßenecke angebracht ist, hat auch uns überrascht. Aber immerhin schon elektromobil!“

Die Ruhrbahn
Verkehrshistorische Arbeitsgemeinschaft EVAG

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