Gang durch die Zukunft

Die All Electric Society Factory auf dem Firmengelände von Phoenix Contact ist ein Aushängeschild der Gleichstromtechnologie weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Doch was heißt das und was macht den weiß-grauen Klotz im ostwestfälischen Blomberg so besonders? Ein Spaziergang vom Dach bis zum Keller der innovativen Fertigungsstätte zeigt, wie Gleichstrom in der Praxis funktioniert.

2.760 Solarmoduleauf dem Dach erzeugen maximal 1.090 kWp

Ein sonniger Nachmittag in Blomberg. Wir frösteln ein wenig auf dem Dach des neuen Fabrikgebäudes. Wie ein gläsernes Meer wellt sich auf dem 11.061 Quadratmetern großen Dach in Blomberg eine blau-schwarze Fläche aus Solarpaneelen. Sobald Sonnenlicht auf das Halbleitermaterial trifft, fließt Strom. Dünne Metallstreifen auf den Solarzellen transportieren ihn weiter über fingerdicke Leitungen zu den DC Combiner Boxen, in denen die solare Energiebeute gesammelt wird. Eigentlich solarer Alltag.

Tobias Lüke

Doch dieses Gebäude ist anders: Wo andernorts Wechselrichter ihrem Namen alle Ehre machen und dafür sorgen, dass sich der Gleichstrom aus der Solaranlage in Wechselstrom verwandelt, fließt er hier direkt in ein lokales Gleichstromnetz. „Systemen wie diesen gehört die Zukunft: Ein Gleichstromnetz optimiert die gesamte Energiekette aus Erzeugung, Verteilung, Speicherung und Verbrauch“, erklärt Tobias Lüke von Phoenix Contact. Der Projektmanager und Gleichstromexperte beginnt seine Führungen durch das Gebäude gern auf dem Dach. Denn erneuerbare Energien sind ein wichtiger Grund, warum Gleichstromtechnologie überall auf dem Vormarsch ist: „Nicht nur die Erzeuger, also vor allem Solar und Wind, arbeiten zunehmend auf Gleichstrombasis, auch Energiespeicher oder Verbraucher: Die LED-Beleuchtung hat die Glühbirne ersetzt. Die meisten elektrischen Geräte und Produktionseinheiten arbeiten mit Gleichstrom – und der Bedarf wächst.“

Tankstelle inklusive

Ladesäulen sind auch an der All Electric Society Factory der mittlerweile übliche Alltag moderner Industriegebäude. Und sie sind wichtige Verbraucher im wachsenden Gleichstromkosmos. Daher führt Tobias Lüke seine Besucher hinab ins Erdgeschoss, wo sich an der Gebäudezufahrt zehn der Energiespender aufreihen. Sie stammen vom Spezialisten VTS Echarge. „Auch sie sind wichtige Bausteine in unserem Gebäudekonzept“, so Lüke. „Über bidirektionale DC-Ladesäulen (DC=Direct Current/Gleichstrom) können Firmenwagen in Zukunft hier nicht nur ihre Fahrzeugbatterien aufladen, sondern bei Bedarf Energie ins System zurückspeisen.“

Schon beim Öffnen einer Ladesäule zeigt sich, dass Phoenix Contact für das Thema Gleichstrom gut aufgestellt ist. „Mit unserem Überspannungs- und Geräteschutz, mit DC-Leistungsschaltern und DC-Ladesteckern können wir für einen sicheren Betrieb von DC-Ladesäulen sorgen. Die Energieflüsse werden durch unsere Leistungsmodule in Kombination mit den hauseigenen Ladekontrollern optimal ausgesteuert.“

Bidirektionales Laden macht aus dem Elektrogefährt eine Art Zwitterwesen im Energiesystem, das zwei unterschiedliche Rollen einnehmen kann: Beim Laden ist es ein Verbraucher im Gleichstromnetz, beim Einspeisen übernimmt es die Funktion eines Batteriespeichers – und hilft, dieses Netz zu stabilisieren.

Lasten die Spitze nehmen

Das allein reicht aber nicht aus: Tobias Lüke schließt die Ladesäule wieder ab und zeigt auf den unscheinbaren, weißen Container neben dem Eingangsbereich des Gebäudes. „Eine stabile Energieversorgung auf Basis von Erneuerbaren Energien bindet auch hinreichend große und zuverlässige Speicher ein, um Schwankungen bei Windstille oder Dunkelflaute auszugleichen“, erklärt der Gleichstromexperte. „Wir können mit diesen Speichern Lastspitzen gegenüber dem öffentlichen Versorgungsnetz ausgleichen und erhebliche Betriebskosten sparen.“
In hochdynamischen Prozessen wie einer Industriefertigung mit unregelmäßigem Stromverbrauch, etwa wenn große Maschinen anlaufen, machen gerade die Lastspitzen (Peaks) Industriestrom so teuer. Es hat sich gezeigt, dass diese Lastspitzen dank des sogenannten Peak Shaving, also der Bereitstellung von kurzfristig abgerufenen Batteriestroms, um bis zu 80 Prozent in Gleichstromanwendungen reduziert werden können. Das freut jeden Controller im Unternehmen.

Ungewöhnlich ist an diesem Speichersystem nicht nur, dass es direkt ins Gleichstromnetz eingebunden ist. Phoenix Contact kooperiert hier mit Voltfang, einem Start-up, das mit Antriebsbatterien aus der E-Mobilität arbeitet. Tobias Lüke öffnet den Container: „Kälte, Nässe, Schnellladen oder Tiefentladungen – Secondlife-Batterien oder Batterien aus der Überproduktion für die Elektromobilität weisen in der Regel höhere Belastungsfähigkeiten auf als speziell für die stationäre Anwendung entwickelte Batterien. Dieser Vorteil der hohen Zyklenfestigkeit wird hier ausgenutzt. Durch optimierte Betriebsstrategien und ein intelligentes Energiemanagement wird die Lebensdauer maximiert und ihre Effizienz für stationäre Anwendungen langfristig gesichert. In einem klimatisierten Container wie diesem hier müssen diese Batterien weder starke Temperaturschwankungen aushalten noch extreme Höchstleistungen vollbringen. Wir geben ihnen ein langes zweites Leben.“

Denken, lenken und steuern

Die Geschichte vom Erzeugen, Speichern und Verbrauchen im Gleichstromnetz ist nicht komplett ohne die Schaltzentrale. Tobias Lüke führt uns in die technischen Katakomben des Gebäudes. Vorbei an ratternden Produktionsmaschinen geht es durch das Treppenhaus hinab in den Keller. Hier sitzt das zentrale Nervensystem der Gleichstromversorgung. In dem langen Raum ohne Fenster riecht es noch nach Neubau. Schaltschrank reiht sich an Schaltschrank. Die Augen des Enddreißigers beginnen zu leuchten, während er die lange Reihe abschreitet: „Hier sitzt das Herz, die Niederspannungshauptverteilung für unser 650 V-Gleichspannungsnetz.“

Die Schaltschränke binden nicht nur Photovoltaikanlage, Batteriespeicher und Ladesäulen ins System ein. Hier wird bei Bedarf auch der Strom aus dem öffentlichen Netz eingespeist – oder Überschüsse zurückgegeben. „Unsere Leistungsmodule eignen sich ideal zum Aufbau von industriellen Gleichstromnetzen. Auch sie können bidirektional – also in beide Richtungen – betrieben werden“, führt Lüke aus und öffnet einen Schaltschrank, in dem sich die Module schubladenartig aufreihen. „Durch den modularen Aufbau lassen sich Schaltschränke ganz flexibel bestücken und die Leistung je nach Bedarf sehr einfach skalieren.“

Kupfergeiz und Stromersparnis

Ein Dreh, dann ist der Schaltschrank offen. Viel Rot und Weiß in trauter Zweisamkeit – Plus und Minus im Gleichstromnetz. Sofort fällt auf: Leitungen und andere Komponenten sind deutlich kleiner als in herkömmlichen Verteilungen – ein weiterer Vorteil dieser Technologie: „Gleichstromnetze benötigen weniger Kupfer für die Stromübertragung. Bis zu 55 Prozent dieses teuren Rohstoffs lassen sich so einsparen“, so Lüke. Hier in der Schaltzentrale landen auch die weißen und roten Strings aus der PV-Anlage. Über DC/DC-Wandler mit einer Gesamtleistung von 120 kW speisen sie auf den sogenannten DC-Bus.

Von der Niederspannungshauptverteilung wird der Gleichstrom auf den Produktionsbereich verteilt. Hier arbeitet die Beleuchtung direkt mit der Energie aus dem DC-Netz. Zwei Abzweige führen zum direkten Anschluss an die Produktionsmaschinen. „Im Gleichstromnetz können wir die Bremsenergie von Robotern und Antrieben nutzen und direkt ins System zurückgeben“, erläutert Lüke den nächsten wichtigen Vorteil des Gleichstroms. „Allein über diese Rekuperation lässt sich je nach Anwendung eine Effizienzsteigerung um bis zu 20 Prozent erreichen.“ Ist trotz aller Verbraucher und Speicher noch überschüssige Energie im Gleichstromnetz vorhanden, speisen die bidirektionalen AC/DC-Wandler netzkonform ins öffentliche Wechselstrom-Netz zurück.

Es wird handfest

Überall dort, wo DC-Lasten im Gebäude 60 sicher geschaltet werden müssen, kommt der brandneue Leistungsschalter ELR HDC zum Einsatz. Er kombiniert die fünf Gerätefunktionen Schützen, Schalten, Überwachen, Vorladen und Netzwerkfähigkeit miteinander. DC-Energiezähler erfassen im gesamten Verbund die Energieströme. Um DC-Lasten steckbar miteinander zu verbinden, setzt man in der All Electric Society Factory auf den ArcZero-Gleichstromsteckverbinder. Er ermöglicht das lichtbogenfreie Stecken und Ziehen unter Last.

Das Lastmanagement und das übergeordnete DC-Netzmanagement erledigt die Software Plattform PLCnext Engineer von Phoenix Contact und vereint die einzelnen Bereiche zu einem ganzheitlichen System. Die Steuerung integriert zudem Daten wie Stromkosten an den Strombörsen, Wettervorhersagen sowie tagesaktuelle Daten von der Messstation auf dem Dach in das Gebäude-Energiemanagement.

Nicht nur reden

Die All Electric Society Factory in Blomberg besitzt in der Branche schon jetzt einen Ruf weit über die Landesgrenzen hinaus. Nicht nur reden, sondern auch umsetzen – Gleichstrom funktioniert schon hier und heute. Dabei ist die Umsetzung noch gar nicht abgeschlossen: „Diese Anlage ist ausdrücklich auch für Versuchszwecke und Betriebstests konzipiert“, ergänzt Tobias Lüke. Insgesamt erhoffen sich die Macher dieses Pilotprojektes weitere Einsparungen und Effizienzsteigerung. Geplant ist unter anderem der Aufbau einer Windkraft-Kleinanlage, ein Elektrolyseur für die Wasserstofferzeugung und Brennstoffzellen, die wiederum Strom aus dem eingelagerten Wasserstoff erzeugen.

Phoenix Contact engagiert sich schon seit Jahren für die Erforschung und Etablierung der Gleichstromtechnik und ist Gründungsmitglied der Open Direct Current Alliance (ODCA). Als die Planung des Gebäudes begann, gab es auf dem Markt nur wenige Komponenten und Standards für den Einsatz von DC-Technologie. Netzbetreiber hatten wenig Erfahrung mit Gleichstromsystemen – und die Suche nach geeigneten Planern und Installateuren gestaltete sich schwierig. Heute sei das anders, betont Tobias Lüke: „Mit den verfügbaren Komponenten, regulatorischen Fortschritten, zunehmender Expertise und Zusammenarbeit mit kompetenten Partnern lohnt es sich auch für andere Unternehmen, den Schritt zu wagen.“

Es ist dunkel geworden in Blomberg, wir sind am Ende der Führung und Tobias Lüke schließt das Tor zu einem der wohl innovativsten Fabrikgebäude überhaupt. Die Zukunft hat längst begonnen. Und die All Electric Society Factory will dafür eine Blaupause sein.

Phoenix Contact

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