Mit der Perestroika leitete Michail Gorbatschow ab 1986 eine epochale Veränderung ein, die zunächst die inneren Verhältnisse der damaligen Sowjetunion erschütterte, letztlich aber zum Fall des Eisernen Vorhangs führte. Eine Zeitenwende, die auch an Phoenix Contact nicht spurlos vorüberging. Ein Zeitzeuge berichtet.
Wat woll’n se‘n wissen?“ Norbert Schultz ist waschechter Berliner mit Herz und Schnauze. Von 1983 bis 2013 war er der im ganzen Unternehmen Phoenix Contact bekannte Handelsvertreter für West- und Ostberlin.
„Die Deutsche Demokratische Republik war damals Ausland“, erinnert sich Norbert Schultz an die Zeit vor dem Mauerfall. Der Vertrieb von Phoenix Contact stoppte bis 1983 am Eisernen Vorhang, in Berlin direkt an der Mauer. Der damals 31-Jährige Ingenieur baute zunächst den Vertrieb für Westberlin auf. Dabei umfasste seine Tätigkeit weit mehr als nur den verkäuferischen Aspekt. Als Kontaktmann in der Hauptstadt, der selbst Elektrotechnik und Betriebswirtschaft an der TU Berlin studiert hat, sei er oft angerufen worden, wenn Kunden oder Mitarbeitende Berlin besuchen wollten.
Einfacher nach Alaska
Doch im Hintergrund war immer die Mauer. Ein Westdeutscher konnte einfacher nach Alaska, Athen oder Tibet gelangen, als die Dörfer in Sichtweite von Elbe und Oder besuchen. Den gebürtigen Berliner ließ dieser Sachverhalt nicht ruhen: „Ich habe mich immer gefragt: Was ist eigentlich mit dem Osten?“
Seine Frage fand Gehör: Gemeinsam mit den Verantwortlichen in Blomberg fiel die Entscheidung, auch die DDR als Markt zu entwickeln, ungeachtet der zu erwartenden Schwierigkeiten. Die Verantwortung für das Ausland lag damals im Bereich Export unter der Leitung von Gerd Eisert. Damit hatte der umtriebige Außendienstler auf einmal zwei Eiserts als Chefs: Norbert Schultz betreute sowohl Westberlin als selbstständiger Handelsvertreter unter Klaus Eisert als auch die DDR als Angestellter im Export unter Gerd Eisert.
Der abgehörte Maximalrabatt
Von dem Büro in Neukölln aus versorgte Norbert Schultz die DDR mit „Westtechnik“. Diverse Klemmen, Überspannungsschutz und weitere Produkte waren immer im eigenen Lager vor Ort vorrätig, um auch im Fall von politischen Schwierigkeiten die Kunden für einige Zeit weiter beliefern zu können.
Dabei war eine Belieferung alles andere als selbstverständlich. Die sogenannte CoCom-Liste regelte genau, welche westlichen Technologien in den Osten verkauft werden durften.
Die Preisgestaltung mit der DDR war nicht ohne Tücke: „Wir wussten, dass die Richtfunkstrecke aus Berlin nach Westdeutschland vom Osten überwacht wurde“, verrät Norbert Schultz. „Wenn ich mit dem Kollegen Ulli Scholz in Blomberg telefoniert habe und wir die Verkaufspreise besprochen haben, haben wir immer festgelegt, wie viel Prozent Rabatt ich geben könnte.“ Lachend fügt er hinzu: „Und einen maximalen Rabatt genannt, der unsere Preisgestaltung dennoch stabil hielt.“
Bleifrei an der Grenze
Probleme mit den übergeordneten Grenzbehörden hatte Norbert Schultz eigentlich nie. „Die wussten immer: Von mir kriegen sie Technik, die sie gern haben wollen, also fangen sie sich da keinen Ärger ein.“ Mit seinem Dauervisum konnte Norbert Schultz in die DDR ein- und ausreisen, wie es ihm beliebte.
An den scharfen Grenzkontrollen kam er jedoch nicht so einfach vorbei. „Einmal kam ich am Grenzübergang mit einem brandneuen Mercedes mit Katalysator an“, erzählt er. „Man hatte mir gesagt, dass da keine Spuren von Blei im Benzin sein dürften, sonst ginge das Auto kaputt. An der Grenze wurde aber in jeden Benzintank ein Plastikstab geschoben, um zu kontrollieren, ob etwas darin versteckt ist. Und zwar immer derselbe Stab.“
Mit seiner Berliner Art habe er dem Grenzbeamten nun charmant eröffnet, dass er mit diesem Stab ganz bestimmt nicht in seinen Tank stechen dürfte. „Er holte dann seinen leitenden Offizier und wir haben lange diskutiert. Letztendlich haben sie dann einen noch verpackten Plastikstab geholt und meinen Tank damit kontrolliert. Ab diesem Tag war ich an dem Grenzübergang bekannt und wurde begrüßt mit ‚Ich weiß, bei Ihnen nur bleifrei.‘“
Der Mauerspecht
Am 9. November 1989 war Norbert Schultz aus nächster Nähe dabei, als die Grenze geöffnet wurde. Denn die Mauer verlief nur wenige Meter von seinem Wohnort in Spandau entfernt. Heute erinnert nur noch ein Streifen aus Kopfsteinpflaster daran. Wo früher Wachturm und Grenzübergang waren, stehen heute Supermärkte. Und genau hier stand Norbert Schultz in der Nacht des 9. Novembers direkt nach der Verkündung der Maueröffnung in den Nachrichten und wartete auf die Menschenmassen. „Es kam gar keiner“, sagt er lachend. „War ja auch noch viel zu früh, so schnell konnte ja keiner dort sein.“
Als dann doch immer mehr Menschen kamen, nahm Familie Schultz kurzerhand ein Ehepaar mit zu sich nach Hause und feierte mit ihnen bei einer Flasche Sekt. „Die wohnten eigentlich direkt gegenüber“, sagt er. „Nur eben auf der anderen Seite der Mauer.“ Später griff Schultz selber zu Hammer und Meißel, um sich ein Souvenir dieser historischen Tage zu sichern. Seinem Chef Gerd Eisert vermachte er ebenfalls eines der denkwürdigen Zeitzeugnisse.
Chancen im Osten
Ab dieser Nacht war auf der Straße vor dem Haus immer etwas los. „Hier standen Reisebusse, um die Leute in die Stadt zu bringen. Die Geschäfte konnten sich vor Kundschaft kaum retten.“ Auch für Phoenix Contact boomte das Geschäft. „Wir hatten Gott sei Dank in weiser Voraussicht bereits ein größeres Büro gemietet“, so Schultz. „Und ich kannte die DDR ja gut und wusste, wo sich die Industriezentren befinden und wer die richtigen Ansprechpartner waren.“ Also stellte Phoenix Contact an allen Industriestandorten neue Vertreter ein. Ein paar Jahre habe es dann aber schon gedauert, das Geschäft im Osten neu zu strukturieren, sagt Norbert Schultz.
Seit Ende der 90er-Jahre sind die neuen Bundesländer Vertriebsgebiete wie jeder andere Teil Deutschlands. Daher wird Norbert Schultz wohl der einzige Vertriebsmitarbeiter von Phoenix Contact bleiben, der jemals das „ausländische Deutschland“ mit Produkten versorgt hat. Und es blieb nicht bei Ostdeutschland. Durch das Know-how und Engagement von Mitarbeitenden wie Norbert Schultz besaß Phoenix Contact eine glänzende Ausgangsposition und wertvolle Kenntnisse, um das Vertriebsnetz weit jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs in Osteuropa auszudehnen.