Der Erdungsgärtner

Morde geschehen in seinem Garten zwar nicht, aber turbulent geht es trotzdem zu, wenn Gerhard Wolff hinter dem Trainingsscenter Schieder die Funken fliegen lässt oder seine Eisenkugel in den Blutbach wirft.

Gerhard Wolff
Gerhard Wolff mit seinem Wurferder am Blutbach

Keine Bange: Wenn Gerhard Wolff mit Ketten und Kugeln in seinem Erdungsgarten auftaucht, wird es nicht schaurig. Und die auftretende Spannung wird mittels diverser Erder sicher abgeleitet. Oder sie zeichnet sich in den Augen der Zuhörer ab. Dann sorgt der findige und wortgewaltige Ingenieur allerdings dafür, dass sie nicht abgeleitet, sondern eher noch angefacht wird.

Zuhörer hat der 61jährige Wolff reichlich. Denn seine Erdungsgarten genannte Testanlage sucht weltweit seinesgleichen. Kein Wunder: Über 30 unterschiedliche Erder sind hinter dem neugebauten Schulungscenter von Phoenix Contact in Schieder installiert, vom Tiefenerder in diversen Längen über Ring- und Plattenerder bis zu Oberflächenerdern. Mit den mobilen Wurferdern wird eine zusätzliche Gruppe an Ableitern zugänglich gemacht.

Hintergrund des Aufwands: Gerhard Wolff ist ein Mann der Praxis. Der gelernte Elektriker, der nach absolviertem Fachabitur in Lemgo Automatisierungstechnik studierte, weiß genau um die Anforderungen, die auf Blitzschutz- und Elektrofachkräfte zukommen, wenn es um die Abnahme eines Erdungssystems geht.

Löcher bohren für die Ausbildung

Erder sind elektrisch leitfähige Teile, die über ihre gesamte Nutzungsdauer dauerhaft mit dem sie umgebenden Erdreich zuverlässig elektrisch verbunden sind. Auch natürliche Erder, wie etwa Metallteile, deren ursprünglicher Zweck nicht der Erdung dient, können als Erder wirken. Beispiele sind etwa Spundwände, Rohrleitungen oder metallene Konstruktionselemente von Gebäuden.
Ihre Aufgaben sind die elektrische Sicherheit mittels der Schutzerdung oder Funktionserdungen. Klar, darunter fallen auch die Blitzschutzanlagen der Gebäude.

Erdungsgarten Gerhard Wolff
  1. 27 Tiefenerder
  2. Ringerder
  3. Plattenerder
  4. dauerhafter Anschluss an Bahnschiene
  5. 6 strahlenförmige Oberflächenerder
  6. Verteilerkasten
  7. Wurferder im Blutbach
  8. Anschluss an Ableitung
  9. LST-Kabel parallel zum Gleis
  10. Potenzialausgleichsschiene Gebäude G100

Erdungsanlagen sind unter Verwendung spezieller Materialien in bestimmten Erder-Anordnungen zu errichten. Heute werden meist Oberflächenerder oder Tiefenerder eingebaut. Verfügen die Prüfer dieser Anlagen über keine ausreichende Routine – etwa durch regelmäßig selbst durchgeführte Erdungsmessungen – oder sind Prüfer nicht ausreichend mit dem Gebrauch der Messgeräte vertraut, können Unsicherheiten oder Falschmessungen auftauchen.

27 Löcher für die Erder

Was laut Gerhard Wolff gar nicht so selten ist: Auch heute werden in der Berufsausbildung elektrotechnischer Berufe Grundlagen zum Aufbau von Erdungsanlagen sowie die Beherrschung von Erdungsmessungen nur im Vorübergehen behandelt, weiß Gerhard Wolff. Messtechnische Hintergründe würden kaum vermittelt. Selbst erfahrenen Praktikern würde es oft schwerfallen, korrekte Erdungsmessungen durchzuführen.

Vor diesem Hintergrund gewinnt der Erdungsgarten seine besondere Bedeutung. Bei der Neugestaltung des Grundstücks waren Wolff und sein Kollege Matthias Unruhe die Initiatoren und Umsetzer des ungewöhnlichen Vorhabens. Schließlich mussten unter anderem 27 Tiefenerder in bis zu neun Meter Tiefe in den Boden getrieben werden, und dies in nur 35 Zentimeter Abstand und ohne sich zu berühren.

Erdungsgarten Gerhard Wolff

Auch vor dem naheliegenden Bahndamm machte Wolff keinen Halt. Was nicht verwundert, schließlich ist das dienstälteste Trabtech-Mitglied („Ich bin Trabtech“) unter anderem Mitglied der Akademie für Bahnsysteme (VDEI) und bildet Eisenbahningenieure in Sachen Blitz- und Überspannungsschutz weiter. Von der am Gelände vorbeiführenden doppelgleisigen elektrifizierten Bahnstrecke Hannover-Paderborn wird das Schienenpotential eines Gleises auf das firmeneigene Grundstück geführt, was diverse Bahnerdungsmessungen ermöglicht. Parallel zum Gleis sind original Bahn-Signalkabel in geschirmter und ungeschirmter Ausführung verlegt und für Beeinflussungsmessungen an den jeweiligen Enden in Isolierstoff-Verteilern auf dem Grundstück der Testanlage zugänglich gemacht.

Ohne Erdung keine Industrie 4.0

Seit 1983 ist Tausendsassa Gerhard Wolff bereits für Phoenix Contact aktiv. Und seit 2000 ist er als Fachleiter verantwortlich für Erdung, Schirmung und Messung. Der Umgang mit der Materie ist nicht ohne Einfluss auf den Ingenieur geblieben: „Mit Überfliegern kann ich oft nicht viel anfangen. Ich sag dann immer – Industrie 4.0 ist ohne eine vernünftige Infrastruktur und Praxis nicht möglich. Ohne Erdung droht die Bruchlandung.“ Das verschmitzte Lächeln zeigt, dass Wolff sein Wortspiel nicht verborgen geblieben ist.

Wenn der sendungsbewusste Erdungsgärtner dann seine Aufgaben in diversen Organisationen aufzählt („so 10 bis 12“), in denen er präsent ist, wird selbst das Aufschreiben schwierig. Ein Beispiel: Wolff ist Gründungsmitglied des Koordinierungsausschusses für das EMV-Sachkundigenwesen bei der VdS Schadensvergütung. Alles klar? Nicht ohne Stolz zählt Gerhard Wolff seine Aufgaben als Dozent unter anderem an der Fachhochschule Hannover-Ricklingen oder der VDEI-Akademie auf („Vom Elektriker zum Hochschuldozenten“). Rund 100 Tage pro Jahr ist der gefragte Spezialist in Sachen Erdung und Blitzmessung nicht am heimischen Schreibtisch, sondern in Sachen Schulung, Ausbildung oder Trouble Shooting unterwegs.

Der Mann mit der Axt

Erdungsgarten Gerhard Wolff
In seinem Erdungsgarten ist Gerhard Wolff in seinem Element

Eines hat Wolff immer dabei: seine Arzttasche („aus drei Millimeter Büffelleder“). Hier hat er nicht nur sämtliche Messgeräte versammelt, die er im Feld einsetzt, sondern auch so exotische Geräte wie ein Stethoskop, ein Chirurgen-Hämmerchen oder eine stabile Axt („aus dem Baumarkt“). Auf die hat er sogar ein Patent angemeldet, nämlich als „patentierten PEN-Trenner“. In Fachkreisen gilt Wolff daher auch als „der Mann mit der Axt“. Überhaupt Patente: Wolff hat etliche Erfindungsanmeldungen beim Patentamt eingereicht, etwa ein Drittel wurden dann auch zu Patenten. Wer jetzt glaubt, der Erdungsgärtner sei mit Lehraufträgen, Erfindungen und Seminaren voll ausgelastet, der irrt. Wenn es um seinen Erdungsgarten geht, dann sprühen nicht nur am Erder die Funken: „Wir sind erst ganz am Anfang. Der Erdungsgarten ist eine echte Antwort auf etliche praktische Probleme da draußen. Wir erhöhen die Verfügbarkeit ganzer Industrien mit unserem Knowhow, daher müssen wir den Erdungsgarten wirklich leben.“

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