Der hängende Garten von Stuttgart

Wenn eine der innovativsten Planungs- und Beratungsfirmen der Immobilienbranche Europas ein eigenes Gebäude errichtet, dann wird das Außergewöhnliche zum Standard: Bei OWP12 fängt die Innovation schon weit unter der Bodenplatte an. Das neue Bürogebäude von Drees & Sommer fasziniert bis ins Detail. Und macht unmissverständlich klar: Gebaut wird in Zukunft ganz anders!

Der meist fotografierte Bestandteil von OWP12 befindet sich im Mittelteil der Fassade. Eine vertikale Blumenwiese ist eben immer noch exotisch, obwohl sich das nach dem Willen vieler Planer und Entscheider in den kommenden Jahren deutlich verändern soll. OWP ist das Kürzel für „Obere Waldplätze“ und beschreibt eine Straße im Stuttgarter Viertel Vaihingen.

Doch bevor die herbstlich eingefärbte Naturfassade an sich bewundert werden kann, muss ein Parkplatz gefunden werden. Mehr als 4000 Mitarbeitende sind für das internationale Beratungsunternehmen für den Bau- und Immobiliensektor tätig, davon allein 1100 vor Ort in der Firmenzentrale. Der Weg zum ersten Meeting führt an der Baustelle vorbei.

Practice what you preach

Steffen Szeidl

Steffen Szeidl ist einer von drei Vorständen von Drees & Sommer und erklärt, warum wir vor einem Game Changer der Bauwirtschaft stehen: „Wir sind in den letzten Jahren stark gewachsen. Schon vor drei Jahren erfolgte daher der Beschluss, ein weiteres Gebäude auf dem Drees & Sommer-Campus zu errichten. Bereits vor Corona hatten wir unsere bestehenden Bürolandschaften mit modernster Medientechnik ausgestattet und die Voraussetzungen für hybrides Arbeiten zwischen Homeoffice und Büro geschaffen.

Das neue Gebäude bietet jetzt all das, was das Homeoffice nicht oder nicht immer leisten kann: Räume für Konzentration, Kommunikation und Kooperation in den einzelnen Teams. Und wir wollen mit diesem Neubau natürlich mit bestem Beispiel auch für unsere Kunden vorangehen, eine nachhaltige und digitale Blaupause für Bürogebäude der Zukunft schaffen. Practice what you preach.“

Mit einem amüsierten Seufzen erklärt der Firmenchef: „Als auf Bau und Immobilien spezialisiertes Beratungsunternehmen ist der Anspruch an unser eigenes Projekt natürlich besonders hoch. Nicht nur von unseren Fachleuten aus dem Bau- und Wirtschaftsingenieurwesen. Genauso beschäftigen wir Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen wie Chemie, Design, Psychologie oder Ökologie. Und das wir die Anforderungen so vieler Disziplinen in unserem Gebäude in Einklang bringen, war nicht immer einfach, umso mehr sind wir stolz auf das Ergebnis.“

Der Weg zum Leuchtturm

Das neue Herz von Drees & Sommer startet als Plusenergie-Haus, soll also mehr Energie erzeugen, als es verbraucht. Thomas Berner, der Projektleiter von OWP12, kommt zum Gespräch hinzu. Er erklärt, warum die Innovation schon unter der allerersten Betonschicht anfängt: „Wir haben mit dem Thema Nachhaltigkeit begonnen. Ganz schnell war klar, dass wir Geothermie einsetzen wollen. 22 Bohrungen befinden sich unter dem Gebäude und versorgen OWP12 mit Wärme. Dazu kommt eine innovative Photovoltaikfassade auf der Süd- und Westseite. Das Thema Energiegewinnung zieht sich über das Dach weiter. Damit war allerdings klar, dass wir nicht genügend begrünte Dachfläche schaffen konnten. So entstand die Idee für unseren Eye Catcher – die Grünfassade sticht sofort ins Auge.“

Der erfahrene Bauingenieur schildert, was es mit den hängenden Gärten von Vaihingen auf sich hat: „Wir wollten keine Moose und braune Pflanzen, sondern ein blühendes, belebendes Ensemble zu allen Jahreszeiten. Auf der Nordseite ist das gar nicht so einfach, vor allem nicht auf einer so großen Fläche über mehrere Stockwerke. Aber mit einem sorgfältig ausgearbeiteten Pflanzplan wächst und gedeiht die Wand hervorragend. Der grüne Vorhang sorgt für ein Temperatur-Delta von rund 4 bis 5 Grad, im Winter wärmer, im Sommer kühler.“ Nicht ohne Stolz schildert Berner, dass Stuttgart in neuen Bebauungsplänen Grünfassaden bei Gewerbebauten fordert, es aber bisher kaum Erfahrungen damit gibt. „Da sind wir echte Pioniere. Zusammen mit den beteiligten Firmen haben wir neue Entwicklungen umgesetzt.“

Dick ist doof

Beim Gang um das Gebäude erreichen wir die Südseite. Nur etwas mehr als 20 Meter liegen zwischen Gebäude und Radau, denn hier führt die A 831 sechsspurig entlang. Thomas Berner zeigt auf die nächste Innovation. „Das ist eine echte Weltpremiere. Die Fassade besteht hier aus Modulen. Hochhaustauglich. Langlebig. Mit perfektem Schallschutz. Und bestückt mit Solarzellen.“ Gemeinsam mit den Firmen FKN und Evonik wurden diese vakuumgedämmten Paneele mit überragenden Eigenschaften entwickelt. Die Experten haben die Elemente so designt, dass die Vakuumdämmung ihre vermeintliche Empfindlichkeit verliert. „Wir gehen von einer Lebensdauer von mindestens 40 Jahren aus.“

Firmenchef Szeidl ergänzt, dass die Module cradle-to-­cradle-fähig seien, sich also in ihre Bestandteile zerlegen lassen und die Materialien wiederverwendet werden können. Unbezahlbare Hightech-Spielerei? Steffen Szeidl verneint energisch: „Die Fassade hat eine Tiefe von nur noch neun, inklusive Photovoltaik von nur 21 Zentimetern, statt wie bei einer Standardfassade 35 bis 40 Zentimeter. Das schafft etliche Quadratmeter mehr nutzbaren Raum. Und das macht diese etwa 20 Prozent teureren Elemente auch kostentechnisch absolut wettbewerbsfähig.“

Übrigens: Den Schallschutz der dünnen Fassade hat das Institut für Fenstertechnik Rosenheim geprüft und als vorbildlich attestiert. Szeidl dazu: „Die Module wurden als Patent angemeldet und vorgestellt. Die bauaufsichtliche Zulassung gibt es seit letztem Jahr als hochhaustaugliche Fassade.“

Haus mit Knick und Kante

Nicht nur die Nähe zur Autobahn ist eine Herausforderung, sondern auch der Schnitt des Grundstücks selbst. Szeidl beschreibt es als bananenähnlich. Dieser Form folgt auch OWP12 in seinem Grundriss. So ergeben sich drei Gebäudeelemente. Das Mittelteil mit der begrünten Fassade stellt das Gelenk dar, welches die anderen beiden Gebäudeteile verbindet und um das sich das Gebäude dreht.

Um die Kosten im Rahmen zu halten, wandten die Planer einen besonderen Kniff an, wie Steffen Szeidl erklärt: „Beim Bau heißt es immer, wir würden doch nur Unikate errichten. Aber das ist Unsinn. Schaut man etwa in den Automobilbau, dann sind extrem viele Varianten möglich, die aber alle aus einer überschaubaren Anzahl an möglichen Komponenten zusammengestellt werden. Also haben wir das Gebäude planerisch in kleinere Einheiten aufgeteilt und geschaut, wo wir gleiche Funktionalitäten haben. Wie können wir schon in der Planung modularisieren? Es geht dabei nicht um die billige quadratische Kiste. Dafür haben wir eine digitale Planungsmethodik angewandt, die jeden individuellen Architekturentwurf und alle technischen Gebäudekonzepte in Module übersetzen kann.“

Der Firmenchef ergänzt: „Ein offensichtlich revolutionärer Gedanke, denn wenn man sich die neuen Gebäude überall in Europa anschaut, dann haben wir etwa 80 Prozent Einzelstücke, und nur 20 Prozent sind standardisiert. Wir müssen das umdrehen, wenn wir schneller, kostengünstiger und effizienter bauen wollen. Man sieht bei unserem Gebäude, dass standardisierte Module auf jedem Geschoss wieder eingesetzt werden. So kommen wir am Ende zu einer Immobilie, die innovativ und ungewöhnlich ist, sich aber bei den Kosten über den gesamten Lebenszyklus hinweg auf dem gleichen Niveau bewegt wie Standardlösungen.“

Klein gedacht – clever gemacht

Thomas Berner

Der Gedanke des Moduls gewinnt in OWP12 vor allem beim Innenausbau eine ganz neue Dimension. Berner beschreibt zunächst den Standard: „Zuerst entwerfen die Planer die Anforderungen, dann geht es für jedes einzelne Gewerk in die Ausschreibung, in der Regel bekommt dann der billigste den Zuschlag. Im Standard haben Sie den Rohbau, in den dann Heizung, Lüftung, Kälte, Sanitär kommt – jeder mit seiner eigenen Montagemannschaft, jeder mit seiner eigenen Planung. Es wird also vor Ort relativ viel gebastelt und zusammengebaut.“

Wir schlängeln uns an Handwerkern und Material vorbei ins Innere von OWP12 und arbeiten uns ins vierte Geschoss vor. „Hier oben sind wir schon fast komplett fertig“, beschreibt Thomas Berner die Situation vor Ort. Der Trockenbau steht, der Teppich ist verlegt, der Innenausbau fast fertig. Bis auf die Decke, denn dort sind die Installationen noch nicht verkleidet. „Doch, die ist auch fertig“, bemerkt der Fachmann die erstaunten Blicke. „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, eine höhere Qualität zu erreichen, die hinterher auch sichtbar bleibt. Also keine abgehängten Decken. Wir wollen unseren Besuchern diese Lösungen auch später zeigen.“

Die Stuttgarter wollten diese eherne Praxis aber auflösen, eine deutlich agilere Form der Gebäudeplanung und -erstellung realisieren. Drees & Sommer entwickelte zusammen mit dem schwäbischen Würth-Konzern ein erneut revolutionäres Konzept.

Thomas Berner beschreibt den Prozess: „Wir wollten eine möglichst hohe Vorfertigung erreichen. Mit Würth haben wir TGA-Module entwickelt. Das sind fünf Meter lange Module, die Elemente der technischen Gebäudeausrüstung beinhalten, also beispielsweise Heizungs-, Klima und Elektrotechnik. Die Module lassen sich wetter- und auch ortsunabhängig in der Halle herstellen. Dann werden sie mit dem Lkw just in time auf die Baustelle geliefert und hier montiert. Und zwar nur noch mit einem Team. Das entlastet die Monteure und erhöht gleichzeitig die Qualität, da die einzelnen Module millimetergenau produziert werden können. Zudem sind wir viel schneller, schaffen in einer halben Woche, was sonst zwei Wochen dauert. Beim dritten Geschoss etwa dauerte es vier Stunden, um eine 400 Quadratmeter große Einheit fertig zu stellen. Heizung, Lüftung, Sanitär, Kälte und Elektrotrasse, fertig gedämmt und mit allen Ventilen so montiert, dass die Stränge separat abdrückbar sind.“ Man merkt dem alten Hasen seine Begeisterung deutlich an.

Spät, aber gelungen

Also alles nur eitel Sonnenschein, wenn es um das neue Gebäude geht? Steffen Szeidl gesteht: „Fast hätten wir trotzdem einen entscheidenden Fehler gemacht. Wir haben Phoenix Contact erst relativ spät an Bord geholt.“ Der Experte schildert die übliche Praxis: „Die MSR, also die Gebäudeautomation, bekommt in der Regel als letztes den Zuschlag im Bauablauf und muss sich dann mit dem abfinden, was die anderen Gewerke in ihrer Ausschreibung definiert haben. So bleibt die Gebäudeautomation, die ja eigentlich für eine effiziente Integration der Gewerke steht, häufig ein Stückwerk. Sie muss viel zu spät aus vielen Vorleistungen anderer Gewerke ein stimmiges Gesamtkonzept stricken, gefangen in den verschiedensten Schnittstellen, unterschiedlichen Funktionalitäten und großem Zeit- und Kostendruck.“

Da aber Phoenix Contact und Drees & Sommer in anderen Projekten im engen Austausch standen, kam irgendwann auch das Thema OWP12 auf. Gerade noch rechtzeitig, wie Szeidl heute betont: „Ich bin sehr froh, dass Phoenix Contact noch in der späten Planungsphase dazugestoßen ist.“ Denn die Ostwestfalen brachten die Thematik der IoT-basierten Gebäudeautomation in ihrem Konzept des Smart Building Designs als entscheidenden Impuls in dieser Phase mit ein.

Bernhard Tillmanns

Bernhard Tillmanns, als Director Industry Management Building Technology verantwortlich für das Thema bei Phoenix Contact, ergänzt: „Wir haben die Firma BIT als unseren Systempartner für das Projekt empfohlen. BIT kommt aus dem Rechenzentrumsbau, mit Kompetenz im Bereich Versorgungstechnik. Diese Experten haben zusätzlich die Themen IT-Kompetenz, Datenmodellierung und IT-Security in die Errichtungsphase mit eingebracht, also Fähigkeiten, die bei der Errichtung eines innovativen Gebäudemanagements notwendig sind. Uns war es sehr wichtig, hier das Mindset zu ändern. Nur wenn diese Expertise frühzeitig eingebunden wird, kann ein Gebäude später im Betrieb auch ganz neue Fähigkeiten entwickeln.“

Hardware ist nur die Hülle

Steffen Szeidl ergänzt: „Planung, Bauleitung, Fertigstellungstermin und Betrieb – das sind häufig getrennte Denkweisen und unterschiedliche Aufgaben. Bei OWP12 hatten wir dagegen alles in einer Hand. Und diese Chance wollen wir nutzen. Wir reden nicht länger nur noch über Hardware, die ich anfassen kann. Ist die Tür richtig montiert? Sind die Leitungen für den Brandschutz gezogen?
Bisher war der Softwareanteil in einem Gebäude ja sehr überschaubar. In unseren Projekten ‚The Ship‘ in Köln, ‚Hammerbrooklyn‘ in Hamburg oder dem ‚Cube‘ in Berlin haben wir gemeinsam mit unseren Kunden deswegen eine Digitalisierungsstrategie verankert, die neue Geschäftsmodelle ermöglicht. Wenn ich etwa stundenweise meine Büros vermiete, und das über eine App läuft, über die die Kunden buchen und auch die Abrechnung bekommen, dann muss das funktionieren. Und wenn dann die Software nicht läuft, mitsamt aller dahinter liegenden technischen Funktionalitäten, dann kann es sein, dass meine ganze Geschäftsidee, die ich mit dem Gebäude habe, kippt. Es ist also nicht länger nur wichtig, dass die Hardware fertig wird. Der Fokus liegt auch auf der Software, die neue Geschäftsmodelle ermöglicht.“
In OWP12 kommt eine eigens entwickelte App zum Einsatz, mit der unter anderem alle Raum- und Büroplatzbuchungen durchgeführt werden. Drees & Sommer arbeitet schon seit mehreren Jahren ohne feste Arbeitsplätze. Neben diesem Tool gibt es eine Zugangskontrolle mit der App. Auch die Cafeteria arbeitet mit Erfassung und Abrechnung in der App.

Die Sensorik des Gebäudes ist vor allem im Beleuchtungssystem integriert

Thomas Berner erzählt, dass die Entwicklung einer eigenen App mittlerweile zu einem modernen Bürogebäude gehört wie Lüftung oder Heizung. „Es geht nicht mehr nur darum, dass das physische Bauen rechtzeitig fertig ist. Damit die nötige Software auch im Betrieb getestet werden kann, muss zusätzliche Zeit eingeplant werden. Das verändert das Bauen, da braucht es ganz neue Denkweisen.
Und wenn wir nur auf einer Software-Plattform arbeiten, also Subsysteme von lauter einzelnen Gewerken vermeiden, dann sind wir deutlich besser aufgestellt etwa bei Krisensituationen. Ich kann an jeder Stelle, wo ich das als Betreiber brauche, später festlegen, wo ich etwa Schalter benötige, weil die Strukturen das zulassen. Und da punktet die Emalytics-Funktionalität von Phoenix Contact entscheidend.“

Steffen Szeidl pflichtet ihm bei: „Zukünftig müssen wir das Thema Gebäudeautomation viel eher denken, schon in der Planung und viel grundsätzlicher. Das ist der einzig richtige Weg, der auch intern von uns in zukünftigen Projekten neu aufgestellt wird. Die Adaptionsmöglichkeiten von Emalytics in die Zukunft sind einfach überzeugend. Und mit dem System von Phoenix Contact sind wir komplett flexibel, können Nutzungen umwidmen, ohne etwa ganz neu Kabeltrassen verlegen zu müssen. Wir können über Softwareprogrammierung Dinge verändern, ohne dass das jemand überhaupt groß mitbekommt, ohne bauliche Maßnahmen. So muss das Bauen der Zukunft aussehen.“

Drees & Sommer
YouTube: Die Grünfassade von OWP12
YouTube: Vorfertigung TGA-Module

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